„Unerhört, was nimmt sich der impertinente Kerl da heraus?“

Wilhelm IX. wischt das ihm gerade vorgelegte Blatt vom Tisch und ergänzt:

„Was für eine Malerei? Nichts Schönes, nichts Klares. Verbiete er ihm das!“

„Hochfürstliche Durchlaucht, wir haben dieses Blatt anonym erhalten!"

"Der Kerl da am Baum, ergreift ihn, einsperren! Wer hat das gedruckt?"

"Es ist wohl eine Federzeichnung, koloriert. Wir konnten nicht feststellen, ob weitere Blätter im Umlauf sind!"


Der Landgraf ist es gewohnt, dass Bildwerke geprüft werden. Wie schon Friedrich II. lässt auch Wilhelm sich Grafiken und Skizzen vorlegen und beauftragt Hofmaler und Hofkupferstecher, Ideen für die Umgestaltung des Bergparks und der Karlsaue oder Pläne für neue Gebäude, Anlagen und Quartiere in Bilder umzusetzen. Er begutachtet und sucht Entscheidungsgrundlagen.

Wie kann es da ein Maler wagen, eine solche Szene und dazu noch in dieser Maltechnik abzubilden.

Wilhelm IX. hat das Aquarell sicher nicht kommentiert, er dürfte es auch gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Dennoch erlaube ich mir diesen fiktiven Kommentar als kleinen Kunstgriff, um den Essay mit einem pointierten Einstieg zu eröffnen.

Warum ist das so harmlos erscheinende Aquarell von 1789 wirklich skandalös?

Das  Bild wird Johann Werner Kobold zugeschrieben, Hof-Designateur und Professor an der 1777 von Landgraf Friedrich II. eingerichteten Kunstakademie. Allerdings habe ich in anerkannten Schriften, z. B. bei Piderit und bei Holtmeyer sowie in den Datenbanken von HKH oder der Online-Plattform der Universität Kassel (Orka) keinen eindeutigen Hinweis auf das Gemälde gefunden. Und ist es wirklich ein Aquarell, eine übermalte Federzeichnung oder ist es eine Gouache? Das ist kaum eindeutig zu klären, weil das Original nicht aufzufinden ist. Mein Scan stammt von Tafel 23 aus: Heidelbach, Paul: Kassel. Ein Jahrtausend hessischer Stadtkultur. Hrsg. Karl Kaltwasser. Kassel und Basel 1957, Bärenreiter Verlag.

Was ist so besonders am Gemälde? Wieso eignet es sich dazu, in das Rahmenthema des Essays einzuführen?

Kassel geht spazieren Entstehung und Entwicklung des Spazierengehens in Kassel?

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Es ist in der Tat skandalös.

Ein Mann in langem Gehrock lehnt sich an einen Baum. Die Kleidung, besonders der Hut mit breiter Krempe und die in die Stiefel gezogenen Hosenbeine deuten auf eine Person aus dem Bürgertum hin. Der junge Mann schaut in ein Buch, das er in der linken Hand hält, den Arm leicht angewinkelt. Die andere Hand stützt sich lässig auf einen Gehstock. Die Person steht verdeckt zum Bild-Hintergrund mit der Silhouette der Stadt und der Orangerie, das Bowlinggreen davor. Den quer zur Blickrichtung verlaufenden Weg nutzen mehrere Besucher des Parks, von links kommend promenieren sie oder schauen auf Kinder, die vom Ufer des Hirschgraben aus zwei Schwäne anlocken. Von der Gegenseite her nähern sich ein Gala-Läufer und rechts dahinter ein oder zwei Reiter. Das zweite Pferd ist im Bild angeschnitten, der Bildrand lässt eine aufsitzende Person nicht erkennen.
Dennoch ist offensichtlich, wer sich da nähert. Ein Gala-Läufer kündigt die Kutsche des Fürsten an, von Reitern eskortiert.

Johann Werner Kobold zitiert einen Druck aus dem Jahr 1772, von W. C. Mayr gezeichnet und gestochen. Mayr interpretiert ein Gemälde von J. H. Tischbein. Unser Künstler verweist auf eine durchaus gewagte Darstellung, denn Tischbein und Mayr fügen Personen der Hofgesellschaft in die Ansicht der Orangerie ein und anzüglich ...

Unser Künstler interpretiert


, und

Den jungen Mann interessiert das nicht. Im Buch zu lesen ist ihm wichtiger, als den Landgrafen untertänig mit Verbeugung und gezogenem Hut zu grüßen.

Es dürfte den Fürsten das gezeigte Desinteresse mehr brüskieren, als der verweigerte Gruß. Anscheinend wagt es der junge Mann nicht, diese Haltung offen zu zeigen. Der Beginn der Französischen Revolution am 5. Mai 1789 lässt grüßen!

Die Bäume im Vordergrund und die üppig beblätterte Pflanzenreihe vor der Orangerie erlauben die zeitliche Einordnung auf Sommer 1789. Die Gewächshäuser am Südrand der Orangerie lassen ...

Tischbein Stich - Mayr 1770 Stich - Ähnliche Szene - Kutsche des Fürsten, Gala-Läufer, Vorreiter ...
...

Karlsaue mit Orangerie und Blick auf die Oberneustadt  - 1789

Aquarell nach Federzeichnung
von Johann Werner Kobold
(1740 – 1803)
Hof-Designateur und Professor an der Kunstakademie


Essay zur Untersuchung:
Kassel geht spazieren


Verweise und Zitate auf:

Johann Heinrich Tischbein d. Ä.,
Ansicht der Karls-Aue mit Orangerie Schloss und schöner Aussicht in Cassel, um 1755.
(Kulturstiftung des Hauses Hessen)

J. G. Mayr: Prospect der Orangerie vor dem Friedrichs Thore beӱ Cassell | Vuë de l'Orangerie à la Porte Fredéric prés de Cassel, 1772.
(Stadtarchiv Kassel)

Essay
Provokation in der Fürstenzeit
Kassel 1789


Unerhört!